Ist Deutschland der neue Hotspot für vietnamesische Dissidenten? So lautet die Frage in einem Artikel, den der britisch-tschechische Vietnam-Spezialist David Hutt für die Deutsche Welle schrieb.
Hutt fand es bemerkenswert, dass der Menschen- und Religionsrechtler Nguyen Bac Truyen, der seit 2018 in Vietnam wegen fragwürdiger Anschuldigungen inhaftiert war, nach Deutschland ausreiste und nicht in die USA, wohin in der Vergangenheit vietnamesische Dissidenten vorrangig emigrierten. Truyen schloss sich, so Hutt, „einem halben Dutzend hochrangiger Landsleute an, die auch in dem europäischen Land Zuflucht gefunden hatten.“ Namentlich nennt er den Rechtsanwalt Nguyen Van Dai und den Schriftsteller Bui Thanh Hieu.
Nguyen Van Dai wurde 2018 vorzeitig aus seiner 15jährigen Haftstrafe entlassen, um gemeinsam mit seiner Frau und seiner ebenfalls inhaftierten Assistentin Le Thu Ha nach Deutschland reisen zu können. Das geschah nach der Entführung von Trinh Xuan Thanh von Berlin nach Hanoi sozusagen als Geste des guten Willens der vietnamesischen Regierung gegenüber Deutschland, um die am Boden liegenden diplomatischen Beziehungen wieder ein wenig zu normalisieren.
Bui Thanh Hieu konnte 2013 mit einem Autorenstipendium der Stadt Weimar nach Deutschland reisen, um hier Bücher zu schreiben. Danach war er Stipendiat des PEN Deutschland und beantragte Asyl. Inzwischen ist er deutscher Staatsbürger.
„Ich habe den Eindruck, dass Vietnam weniger politische Dissidenten ausreisen lässt“, sagt Phil Robertson von der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch der Deutschen Welle.
Unter den 103 000 Menschen mit vietnamesischen Wurzeln, die in Deutschland leben, viele darunter mit deutschem Pass, sind die politischen Exilanten eine verschwindend kleine Minderheit. Davon ist die deutsche Journalistin Marina Mai überzeugt. „Die überwiegende Mehrheit der ersten Generation verhält sich dem vietnamesischen Staat gegenüber loyal, besucht Veranstaltungen der vietnamesischen Botschaft, schaut zu Hause nur VTV4 (und keinen deutschen Fernsehsender) spendet viel Geld nach Vietnam und investiert dort Geld,” sagt sie. Sie verhalten sich ihrer Überzeugung nach also genau so, wie Hanoi sich das von Viet Kieu wünscht.
Ein weiterer prominenter Flüchtling hält sich in Deutschland auf, um einer fragwürdigen vietnamesischen Strafverfolgung zu entgehen: Die langjährige Managerin und Geliebte von Vietnams Premierminister, Nguyen Thi Thanh Nhan. Sie ist deutschen Behörden zufolge von einer Entführung durch den vietnamesischen Geheimdienst bedroht, bekommt in Deutschland aber Schutz. Und Deutschland hat Vietnam davor gewarnt, erneut mit einer Entführung die deutsche Souveränität und das Völkerrecht zu verletzen.
Le Trung Khoa, Chefredakteur und Herausgeber von Thoibao.de, sagte der Deutschen Welle, die deutsche Regierung verfolge seiner Überzeugung nach „eine härtere Haltung gegenüber autoritären kommunistischen Staaten wie Vietnam und China, in denen die Menschenrechte ernsthaft mit Füßen getreten werden“. Wenn Aktivisten aus diesen Ländern nach Deutschland kommen, so Khoa, hätten sie mehr Möglichkeiten, sich weiterhin für Freiheit und Demokratie einzusetzen.
Dass Deutschland vietnamesische Dissidenten aufnimmt, ist dem Engagement von Einzelpersonen zu verdanken, darunter der FDP-Bundestagsabgeordneten Gyde Jensen. Sie hatte für Nguyen Bac Truyen eine parlamentarische Patenschaft übernommen und sich äußerst hartnäckig gegenüber vietnamesischen Diplomaten für dessen Freilassung eingesetzt. Auch die Menschenrechtsorganisation Veto! leistet dafür wertvolle Arbeit.
Arno Werner